"Um was soll ich mich denn noch alles kümmern?", "Was soll ich denn noch alles machen?", "Wofür soll ich eigentlich noch Verantwortung übernehmen?"
Diese Fragen begegnen mir oft in Gesprächen mit Lehrkräften, die sich mit so vielen Anforderungen und Erwartungen von außen konfrontiert sehen, dass schnell einmal der Eindruck entsteht, sie müssten sich jetzt kurz mal um die ganze Menschheit, die Behebung der Bildungsmisere und Reformierung des gesamten Schulsystems kümmern.
Auch generell scheint das aktuelle Weltgeschehen mehr denn je zu Aktivität, Positionierung, Widerstand, Teilhabe etc. aufzurufen und an die Verantwortung des Einzelnen zu appellieren.
Und ja- Gründe dafür gibt es genug: Naturkatastrophen, Klimawandel, Kriege, Menschenrechtsverletzungen, Migrationsfragen, Rechtsextremismus, Diskriminierung, Bildungskrise - die Liste bedrückender Nachrichten ist lang. Und die Aufforderung an den Einzelnen, schleunigst etwas gegen all das zu tun, scheint allgegenwärtig.
So ist es nichts Ungewöhnliches, wenn wir uns immer öfter hin- und hergeschüttelt fühlen zwischen den Extremen der Allmacht und Ohnmacht. Zwischen dem "ich kann und muss jetzt schnell etwas verändern" und "das bringt doch alles eh nichts".
Diesen 2 Positionen möchte ich mich heute widmen und Dir ein paar Denkanstöße mitgeben, wie es gelingen kann, trotz der bedrückenden Gesamt-Weltlage, für sich selbst ein gutes Gleichgewicht im Alltag zu finden.
Die Illusion der Allmacht
Es ist menschlich, dass wir gerade in unruhigen Zeiten besonders stark nach Kontrolle streben. Die Kontrolle über eine bestimmte Situation (wieder-) zu gewinnen, stabilisiert und reduziert Unsicherheit. Doch es gibt Ereignisse und Situationen, die außerhalb unseres Kontrollbereiches liegen. Die unvorhergesehen eintreten und die wir eben nicht "im Griff haben" (können). Hier kann es zu übermäßigem Stress führen, wenn wir meinen, wir müssten alles regeln und die Verantwortung dafür übernehmen. Dies schafft unrealistische Erwartungen und wir fühlen uns für Dinge verantwortlich, die jenseits unserer Einflussmöglichkeiten liegen.
Naturkatastrophen, globale politische Entwicklungen, die Handlungen anderer Menschen etc. All diese Dinge werden durch eine Vielzahl von Faktoren geprägt, die von vielen Menschen geteilt und beeinflusst werden und für die eine Einzelperson keine oder nur begrenzte Verantwortung trägt.
Ein gesundes Maß an Selbstverantwortung bedeutet, Verantwortung für das zu übernehmen, was beeinflusst werden kann, und gleichzeitig die Fähigkeit zu entwickeln, das Unvermeidliche zu akzeptieren.
Diese Haltung erlaubt uns, an die Bereiche, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, mit Ruhe und Anpassungsfähigkeit heranzugehen. Es bedeutet nicht, dass wir die Verantwortung für unser Handeln aufgeben. Stattdessen erkennen wir an, dass es im Leben viele Unwägbarkeiten gibt, die nicht vorhersehbar oder kontrollierbar sind.
Die Last der Ohnmacht
Als Gegenpol zur Allmacht steht die Ohnmacht, die überwältigend sein kann. In Momenten, in denen wir das Gefühl haben, keinen Einfluss auf unsere Umgebung zu haben, kann die Hilflosigkeit dominieren. Dies kann zu Angst, Resignation und einem Gefühl der Ausweglosigkeit führen.
Wenn wir lernen, uns mit den unsicheren Aspekten des Lebens zu arrangieren, so bedeutet das nicht, sich resigniert zurückzulehnen. Es bedeutet vielmehr, die Fähigkeit zu entwickeln, das Unvermeidliche zu akzeptieren und gleichzeitig nach Wegen zu suchen, wie wir konstruktiv mit den Herausforderungen umgehen können.
Die Balance
Um am Weltgeschehen nicht zu verzweifeln und gleichzeitig dennoch das Gefühl zu behalten handlungsfähig zu sein, ist es entscheidend, einen Mittelweg zwischen Allmacht und Ohnmacht zu finden.
Das bedeutet, die Dinge anzunehmen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, und gleichzeitig die Verantwortung für das zu übernehmen, was wir beeinflussen können.
Es geht darum, realistische Erwartungen zu entwickeln und sich bewusst zu machen, dass wir nicht alles wissen oder kontrollieren können.
Anstatt gegen Windmühlen zu kämpfen, lernen wir, uns den Winden anzupassen und aus jeder turbulenten Phase gestärkt hervorzugehen.
In dieser Balance zwischen der Illusion der Allmacht und der Last der Ohnmacht liegt die Möglichkeit, mit Gelassenheit und Selbstbewusstsein durch unruhige Zeiten zu navigieren.
So sind wir uns, glaube ich einig, dass nicht Du allein den Krieg in der Ukraine beenden, den Nahost-Konflikt lösen, den Klimawandel stoppen oder das Schulsystem reformieren kannst.
Ich möchte Dir ein paar Punkte nennen, was das für Dich konkret heißen und was es für Deinen Alltag bedeuten könnte:
"Filteranlage" warten
Wir können nicht alles, was von außen täglich auf uns "einprasselt" zu uns durchlassen. Dies würde uns in einen absoluten psychischen Stresszustand versetzen. Daher verfügt jeder Mensch über eine "Filteranlage".
Überpüfe einmal Deine "Filteranlage": Was kommt durch? Was nicht? Ist sie zu durchlässig? Hat sie Löcher? An welcher Stelle könntest Du einen feineren Filter einsetzen? An welcher Stelle muss sie einmal durchgepustet werden?
Wähle Deine Informationsquellen sorgsam aus
Wähle aus, welche Art von Nachrichten Du wann konsumierst
Überpüfe die Art und Anzahl von Push-Benachrichtigungen auf Deinem Handy
Begrenze den Zeitrahmen, in dem Du Nachrichten konsumierst / in dem Du Dich um Probleme anderer kümmerst / in dem Du Dich in Sozialen Medien bewegst
Wie sehr identifizierst Du Dich mit dem Leid anderer Menschen? Wo sind Deine Grenzen?
Den Rahmen Deiner Möglichkeiten abstecken
Diese Bezeichung nutze ich gerne im Zusammenhang mit Ressourcen und dem eigenen Energiehaushalt. Für alles steht Dir im Leben ein Rahmen mit Möglichkeiten zur Verfügung. Er kann aus Zeit bestehen, aus finanziellen Mitteln, Gesundheit, aus verschiedensten Ressourcen. Dieser Rahmen zeigt uns immer wieder unsere eigenen Begrenzungen auf. Dass eben nicht immer und zu jedem Zeitpunkt alles möglich ist- so sehr wir es uns auch wünschen / visualisieren, uns anstrengen. Lassen wir uns zu sehr auf die Illusion der Allmacht ein, so verlassen wir ganz schnell den Rahmen unserer Möglichkeiten und gelangen in die Überforderung und Verzweiflung.
Schau mal in Deinen Alltag: Welche Rahmen stehen Dir zur Verfügung?
Welcher Rahmen ist es, der Dir als Lehrkraft zur Verfügung steht? Welcher Rahmen als Führungskraft? Welcher Rahmen als Elternteil? Welchen Rahmen gibt Deine Gesundheit vor?
Wenn Du Deine verschiedenen Rahmen gefunden hast, kannst Du dran gehen und an den Stellschrauben drehen. Und hier drehst Du nicht an allen Schrauben gleichzeitig- kein Handwerker würde je sowas tun- sondern an einer nach der anderen oder erst einmal nur an einer.
Will sagen: Überprüfe, in welchem Bereich Du Dich wie einsetzen kannst, Verantwortung übernehmen kannst und sei Dir Deiner Ressourcen darüber bewusst.
Was kannst Du selbst verändern und wo gibt es eine äußere Begrenzung?
Dies kann bedeuten, dass Du als Lehrkraft jeden Tag mit den Begrenzungen des Schulsystems umgehen musst, mit limitierten Mitteln, die Dir eben nicht erlauben, Deinen Unterricht modern und fortschrittlich zu gestalten, weil es z.B. an digitalen Endgeräten fehlt. Gleichzeitig kannst Du als Lehrkraft jeden Tag den Fokus auf die Beziehung zu Deinen Schüler.innen legen und für ein gutes Miteinander im Klassenverbund sorgen.
Achtsamkeit
...und immer wieder Achtsamkeit- ja Herrschaftzeiten und wie geht das denn jetzt eigentlich?
Was möglicherweise nicht immer sofort mit Achtsamkeit in Verbindung gebracht wird, sind Routinen. Routinen geben uns genau das, wonach wir in unsicheren Zeiten streben: Kontrolle und Stabilität.
Überpüfe Deinen Alltag einmal auf Routinen: Wie steht es mit regelmäßigem Essen, Bewegung, Pausen, Schlafenszeiten, morgendlicher Routine etc.? Wenn wir diese Routinen bewusst in den Alltag integrieren und zu festen Zeiten einplanen, tun wir viel für unsere psychische Gesundheit, da Kontrolle und Stabilität zu den 4 psychischen Grundbedürfnissen zählen. Gleichzeitig machen uns routinierte Abläufe wieder Platz frei im Gehirn für die "komplizierten Dinge".
Gemeinschaft und Unterstützung
Niemand muss Herausforderungen alleine bewältigen. Suche Dir Gemeinschaft und Unterstützung für "Deine Themen". Der Austausch mit anderen, das Teilen von Erfahrungen und das gemeinsame Entwickeln von Lösungen stärken nicht nur die individuelle Widerstandsfähigkeit, sondern schaffen auch ein Gefühl der Verbundenheit.
Wie fühlt es sich an, wenn Du das Superheld:innen Cape ab und zu mit dem Alltagsmantel tauschst und umgekehrt? So wie es in den Rahmen Deiner Möglichkeiten passt?

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